22.08.2022
Bibliolog

Bibliolog

Die Bibel lebendig werden lassen.

«Martha, wie geht es dir gerade?» Ich stelle die Frage und blicke in die Runde. Einzelne haben ihren Blick auf den Boden gerichtet, sind gedankenversunken. Andere suchen den Augenkontakt zu mir. Was spricht aus ihren Augen? Noch liegt eine gespannte Ruhe im Raum. Dann hebt die erste Person ihre Hand, ich trete neben die Frau. Mit kräftiger Stimme sagt sie: «Ich rege mich furchtbar auf! Warum muss immer ich alles machen?» Ich wiederhole das Gesagte in meinen Worten, damit es wirklich alle hören. Stille tritt ein. Ein Mann meldet sich, ich gehe zu ihm. Er flüstert mir zu: «Eigentlich würde ich mich auch gerne hinsetzen. Aber meine gute Erziehung macht mir einen Strich durch die Rechnung.» Für alle gut hörbar wiederhole ich auch diese Antwort. Darauf melden sich gleich zwei Frauen. Ich bin gespannt, was diese Marthas zu sagen haben. «Eigentlich könnten wir doch alle drei das Essen vorbereiten. Das täte auch Jesus gut!» sagt die zweite. Alle lachen. Dann wird es langsam still, Martha hat nichts mehr, was ihr auf dem Herzen liegt. Ich lese den nächsten Abschnitt der Geschichte von Maria und Martha.

So oder ähnlich ist es, wenn Menschen miteinander einen Bibliolog erleben.

Bibliolog ist eine Methode, biblische Texte lebendig werden zu lassen. Der Bibeltext wird Abschnitt für Abschnitt gelesen und die Teilnehmenden gehen in die verschiedenen Rollen, versuchen mit ihren Lebenserfahrungen, ihren Gedanken und Gefühlen nachzuempfinden, was zwischen den Zeilen steht. Wir sprechen vom schwarzen Feuer, dem geschriebenen Text, den wir mit dem weissen Feuer zum Leuchten bringen. Das weisse Feuer sind die Leerstellen, die Brüche, die Gedanken, die wir nicht lesen, sondern nur erahnen und empfinden können.

Spielerisch und gemeinschaftlich loten wir die Vielfalt der Bedeutungsmöglichkeiten aus, denn selten sind alle Marthas und Marias einer Meinung. Da kommen gegensätzliche, manchmal auch überraschende Interpretationen. Wir lachen herzhaft. Da und dort kullert auch mal eine Träne über die Wange.

Alle, die am Bibliolog teilnehmen, dürfen sich melden. Aber niemand ist gezwungen. Diese Freiheit ist eine Grundregel. Die zweite Regel besagt, dass im Bibliolog nicht zwischen richtig und falsch unterschieden wird. Denn jede Sichtweise, jeder Aspekt kann eine neue Dimension der Geschichte eröffnen.

Bibliolog als Methode wurde von Peter Pitzele und seiner Frau Susan entwickelt. Er ist Literaturwissenschaftler und Psychodramatiker in New York. Die Wurzeln des Bibliolog liegen in der jüdischen Auslegungsform des Midrasch: Der Bibeltext ist immer mehrdeutig. Und jeder und jede hat dazu etwas zu sagen, kann wieder etwas Neues entdecken. Niemand ist in der Lage, die Tiefe eines Bibeltextes allein zu ermessen. Ein wunderbarer Ansatz, finde ich. Er lehnt an ein Zitat aus Ps. 62 an: «Ein einfaches hat Gott gesprochen, ein zweifaches habe ich gehört.»

Und letztlich entspricht der Bibliolog dem reformatorischen Grundsatz des Priestertums aller Gläubigen: Jeder und jede kann die Bibel verstehen und jeder und jede kann etwas zum Verständnis der Bibel beitragen. Alle sind gleichermassen Suchende und Fragende.

Deshalb braucht es auch keine Voraussetzungen, um an einem Bibliolog teilzunehmen. Bibelkenner und Menschen, die mit der Bibel nicht viel am Hut haben, können teilnehmen.

Unterdessen hat sich Bibliolog als Methode auch in der Schweiz etabliert und bewährt.

Seit 2022 führe ich im Lerchenfeld jährlich mehrere Bibliologe durch. An vier Abenden pro Jahr nehmen wir uns Zeit für eine Geschichte und tauschen anschliessend über das Erlebte aus. Viermal jährlich findet ein Bibliolog-Gottesdienst statt. Anstelle einer Predigt erleben wir gemeinsam einen Bibliolog. Ich finde das besonders reizvoll, denn in diesen Gottesdiensten bin nicht ich als Theologin diejenige, die den biblischen Text erklärt und deutet, sondern wir tun das gemeinsam. Gottesdienstbesuchende sind nicht «nur» Hörende und Denkende, sondern auch Gestaltende. Diese partizipative Form des Gottesdienstes gefällt mir.

Habe ich Ihre Neugier geweckt? Kommen Sie doch mal und erleben Sie, dass wir gemeinsam die Bibel lebendig werden lassen. Ich freue mich auf Sie.

Sabine Wälchli, Pfarrerin und Bibliolog-Leiterin

Flyer 2024

zurück